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Buch: Das nackte Gehirn

Mario Markus: Das nackte Gehirn © Theiss-Verlag

Erscheint »Gehirn« auf einem Buchtitel, kann man sicher sein, dass sich Esoteriker, Psycho-Laien und Selbstoptimierer begierig auf den Klappentext stürzen. Versprechen solche Bücher doch meist Hilfe zu Selbsterkenntnis und Eigentherapie. Genau diese Leserschaft scheint das Buch »Das nackte Gehirn – Wie Neurotechnik unser Leben revolutioniert« von Mario Markus auf den ersten Blick auch anzusprechen. Aber Achtung: Klappentext und Einleitung sind Honigtöpfe.

Honigtopf (honeypot)

Gedankenlesen, Telekinese und Telepathie seien nämlich »zu wissenschaftlich anerkannten, reproduzierbaren und teilweise sehr nützlichen Techniken« geworden, heißt es gleich im ersten Absatz des Einführungskapitels. Ein Satz, der Ahnungslose anlocken kann, die dann in ein Thema hineingezogen werden, mit dem sie nicht gerechnet haben – eben ein Honigtopf.

Genau deshalb sollte man das Buch eigentlich gar nicht öffentlich besprechen. Parapsychologen und Esoteriker könnten gewarnt werden, weil die Buchbesprechung auch benennen muss, dass hier die wissenschaftliche Wirklichkeit beschrieben wird. Doch zumindest aus der ersten Hälfte könnten sich wissenschaftlich belegte Informationen ziehen, die sich in einen Brei aus Halbwissen und Fehlschlüssen integrieren lassen. Zwar stellt Markus gleich sehr früh klar, dass Parapsychologie halt mal klappt und mal nicht, dass die Versuche in der Regel nicht reproduzierbar sind, aber er zitiert dann auch eine wissenschaftliche Statistik, nach der sich das parapsychologische Für und Wider die Waage halten.

Was Neurotechniker sehen können

Bis zur Buchmitte zählt der Autor nahezu alle Phänomene auf, die Hirnforscher und Mediziner in den vergangenen Jahren mit Hilfe von EEG, fMRT und anderen Messtechniken herausgefunden haben. Die Funktionsweise dieser Techniken erklärt er ausführlich und verständlich im Anhang des Buches: Mit dem EEG, dem Elektroenzephalogramm, messen Forscher elektrische Gehirnströme, mit der fMRT, der funktionellen Magnetresonanztomographie, physiologische Hirnfunktionen in einem Magnetfeld, durch das aktive Hirnareale sichtbar werden.

Sind Hetero- und Homosexualität, Pädophilie, Mitgefühl und Hass, Lust am Töten oder Rassismus im Gehirn messbar? Markus hat sich durch die wissenschaftliche Literatur gelesen und alles an aufdeckenden Untersuchungen zusammengestellt, von denen Menschen eigentlich glauben, es seien ihre ureigenen, privaten, oft tief vergrabenen Emotionen, logischen Entscheidungswege und individuellen Charaktereigenschaften. Mit den vorgestellten Techniken lässt sich aber viel mehr sichtbar machen, als mancher denkt. Die Kapitel sind hinreichend kurz, in denen er die Methoden der Entdeckung und deren Überprüfungen enzyklopädisch darstellt und am Ende in einem Fazit zusammenfasst.

Der Autor

Mario Markus ist Physiker und forschte lange Zeit am Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund. Für das Buch hat er zahlreiche, aktuelle Wissenschaftsveröffentlichungen ausgewertet. Auch wenn er kein Experte in Sachen Gehirnforschung und auch kein Wissenschaftsjournalist ist, kann man darauf vertrauen, dass er die Aussagekraft der wissenschaftlichen Literatur richtig beurteilt hat.

Telekinese nur mit Technik

In der zweiten Hälfte des Buches greift Markus dann tatsächlich das scheinbar Paranormale auf. Da geht es um Telekinese, das Lenken von Rollstühlen mit Gedanken, ja, sogar um die Gedankenübertragung von Gehirn zu Gehirn. Doch mystisch ist das alles nicht, denn ohne Kabel, Computerchips und -programme funktioniert es nicht. Damit nicht genug. Er beschreibt auch, wie viel mühevolle Übung und Zeit computerbasierte Telekinese eben doch erfordert, um klappen. Spätestens hier werden Esoteriker und Anhänger des Paranormalen furchtbar enttäuscht.

Dass man mit diesen Techniken natürlich auch das Gehirn manipulieren kann, darauf geht Markus gegen Ende des Buches ein, wo er sowohl Gehirndoping als auch die Behandlung von Hirnkrankheiten, wie Parkinson beschreibt. Das sind Anwendungen, auf die er auch in einem Ethik-Kapitel vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Normen und Urteile eingeht.

Nur ein Teil der Gehirnforschung

Wie es im Untertitel heißt, beschreibt das Buch ausschließlich Neurotechniken. Es wäre wünschenswert gewesen, diese Techniken in einem kurzen Kapitel in den großen Zusammenhang des gesamten Wissenschaftsfeldes der Gehirnforschung zu stellen. Beispielweise, wie neurotechnisch gewonnene Erkenntnisse sich in biologische Untersuchungen und Experimente auf Organ- und Zellebene, Genetik und Evolution einordnen lassen.

Sprache

Mario Markus ist nicht nur Wissenschaftler. Er hat sich immer auch im Brückenbau zwischen Kunst und Wissenschaft engagiert, beispielsweise indem er selbst Computergrafiken veröffentlichte. Aber er hat auch einen Namen als Romanautor und Lyriker in seiner Muttersprache Spanisch. Leider spiegelt sich diese Sprachbegabung nicht in dem diesem Buch wider. Andererseits schreibt er auch nicht wissenschaftlich hochgestochen, so dass der Text sehr gut für ein breites Publikum geeignet ist.

Fazit

Eine umfassende, enzyklopädische und gut lesbare Zusammenstellung der beschreibenden und experimentellen Neurotechnik, – vor allem geeignet für neugierige Realisten.


Markus, Mario (2016): Das nackte Gehirn – Wie die Neurotechnik unser Leben revolutioniert. Theiss-Verlag. Hardcover ISBN: 9783806232783, eBook PDF ISBN:9783806233230, eBook EBUB ISBN:9783806233247

Ganz normale Menschen

Manche Menschen können gut und laut reden, treffen schnell Entscheidungen und bewegen sich eloquent auf Parties und Konferenzen. Das sind die Extravertierten. Manch andere Menschen halten sich zurück, bleiben im Hintergrund, beobachten, durchdenken und reflektieren. Das sind die Introvertierten und Hochsensiblen, die Korrektive der Macher. Warum das aber nicht wirklich wichtig ist.

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Hochsensibilität ist nicht ansteckend. Es ist nicht einmal eine Krankheit. Im Gegenteil: So genannte hochsensible Menschen fühlen sich eigentlich ganz wohl in ihrer Haut – falls sie nicht noch zusätzlich wirklich ernsthafte Macken mit sich herumschleppen. Dennoch haben ihre Ratgeberforen Hochkonjunktur, und professionelle wie selbst ernannte Coaches, Karriere- und Unternehmensberater wittern einen profitablen Markt. Als sei Hochsensibilität eine Behinderung oder chronische Krankheit, bieten sie beispielsweise Kurse zum Thema „Hochsensibel glücklich leben“ zu Preisen zwischen 270 und 565 Euro an.

Hochsensible gelten als zurückgezogen, in sich gekehrt, ja sogar schüchtern. Menschenansammlungen vermeiden sie, bei Teamsitzungen und auf Parties halten sie sich im Hintergrund. Gehen sie dann doch einmal aus sich heraus, wirken sie oft als arrogant, überheblich, abgehoben oder belehrend. Manch einem erscheinen sie tiefgründig und rätselhaft. Braucht aber jemand eine emotionale Stütze, so entpuppen sie sich auch als empathische Zuhörer.

So ungefähr lautet die Aufschrift auf der populärpsychologischen Schublade für Hochsensible. Es sind also ganz normale Menschen. Denn irgendwann hat jeder mal das Bedürfnis, sich zurück zu ziehen, eine langweilige Teamsitzung an sich vorüber rauschen zu lassen oder sich mit Arroganz einer nervigen Diskussion zu entziehen. Im Gegenzug können auch stille Menschen zu kommunikativer Höchstform auflaufen.

Psychologie

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Weil Hochsensibilität für das alltägliche Zusammenleben kaum eine Rolle spielt, interessieren sich nur wenige Forscher dafür, es sei denn sie können damit wissenschaftliche Sporen verdienen, etwa indem sie Beweise dafür finden, dass alle Menschen anders sind.

Warum Hochsensible so sind und ob sie so sind, wie sie scheinen, ist wissenschaftlich denn auch umstritten. Fest steht jedoch, dass es Menschen gibt, die Reize intensiver aus der Umwelt aufnehmen als andere – bis zu 300 Mal stärker als die 70 bis 85 Prozent der übrigen Menschheit. Dazu gehören auch die inneren Reize, wie Gedanken oder Gefühle, die sie deutlicher wahrnehmen und lange und gründlich reflektieren. Der Grund sind individuelle Filter im Kopf, die bei einigen Gehirnen für unwichtig gehaltene Informationen blockieren, bei anderen durchlassen. Je mehr Informationen durchkommen, desto schneller ist der Hirnspeicher voll, desto mehr Zeit und Ruhe brauchen die Hirnzellen, um die Menge und Vielfalt der Datenmenge zu verarbeiten. Als Konsequenz brauchen solche Menschen viel Zeit, um etwas zu entscheiden. Haben sie sich aber zu einem Entschluss durchgerungen, ist die Lösung in der Regel perfekt, gewissenhaft und ethisch durchdacht. Sie selbst würden sie aber wohl als Bauchgefühl bezeichnen.

Menschen mit einem solch durchlässigen Filter nehmen bei ihren Mitmenschen besonders viele, auch unbewusste Botschaften wahr, so dass bei der facettenreichen Fülle der einströmenden Eindrücke im Gehirn nur wenig Platz für enge Freunde bleibt. Bei der Masse an Signalen, die bei zwischenmenschlichen Konflikten ausgetauscht werden, kommt es bei ihnen schnell zur Überstimulation der Nervenzellen. Kein Wunder, dass sie Auseinandersetzungen meiden und so als harmoniebedürftig gelten. Auch mit ausgeprägten Alltagsroutinen vermeiden sie eine übermäßige Hirnstimulation, damit ihnen mehr Zeit, Raum und Energie zum kreativen Denken bleibt.

Dieses Sammelsurium beschreibt nur einen Teil dessen, was in populärwissenschaftlichen Online- und Offline-Traktaten gehandelt wird. Es gibt eben kein Diagnose- oder Testverfahren für Hochsensibilität. Das liegt auch daran, dass die neurowissenschaftliche Datengrundlage recht dünn ist – ein Problem vieler psychologischer Hypothesen.

Neurologie

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Die Psychologin Elaine Aron führte den Begriff 1997 als „sensory-processing sensitivity“ in die Persönlichkeitspsychologie ein. Zusammen mit ihrem Mann untersuchte sie zwar inzwischen Hunderte von Probanden, schien dabei aber nicht besonders repräsentativ vorgegangen zu sein. 

Nichtsdestotrotz sind inzwischen auch neurowissenschaftliche Grundlagenforscher dabei, sich dieser Variation menschlicher Persönlichkeitsstrukturen anzunehmen. Sowohl die Beobachtung von Kleinkindern, wie auch Genanalysen legen in der Tat nahe, dass die Ausprägungen der Hochsensibilität offenbar stark in den Genen begründet ist. Das belegen auch Beobachtungen an zahlreichen Tierarten, unter denen es immer Individuen gibt, die sich zurückhaltend und vorsichtig verhalten, und dann intuitiv ihre Gruppe vor Gefahren warnen oder sie zu übersehenen Wasserlöchern führen.

So interessant diese Forschungsergebnisse sind, mit der Einordnung tun sich die Wissenschaftler schwer. Denn möglicherweise ist Hochsensibilität ja auch nur der Unterfall eines ganz anderen psychologischen Phänomens oder ein Gemisch verschiedener Komponenten des verbreiteten psychologischen Persönlichkeitsmodells, das Big Five genannt wird.

Big Five

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Die Big Five sind fünf Persönlichkeitskategorien, die sich zwei Grundmerkmalen zuordnen lassen. Zur so genannten Plastizität einer Persönlichkeit gehören die beiden Kategorien Extraversion/Introversion und Offenheit für Neues. Zur so genannten Stabilität die drei Kategorien emotionale Ausgeglichenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.

Praktischerweise lassen sich die beiden übergeordneten Merkmale auch den beiden wichtigsten Schaltkreisen im Gehirn zuordnen, dem Serotonin- und dem Dopaminpfad. Der Botenstoff Serotonin hält das Innenleben stabil und wirkt eher hemmend. Das Dopamin dagegen gilt als Glückshormon. Bei starker Ausschüttung kurbelt es den Erkundungsdrang an, der Mensch ist auf Abenteuer aus, um sein Glück zu finden. Lässt die Menge dieses Hormons nach, ist der Mensch auch mit wenig glücklich – und seien es die eigenen Gedanken, denen der nachhängen kann.

Die Mischung und unterschiedliche Ausprägung dieser fünf Persönlichkeitsaspekte als Teile der beiden Grundmodelle Stabilität und Plastizität kann zwar im Groben viele Charakterzüge von Persönlichkeiten erklären, reicht aber bei weitem nicht aus, die vielfältige Einzigartigkeit von Menschen wirklich zu beschreiben.

Introversion

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Interessanterweise hat sich die populärpsychologische Szene aus diesem Charakterquintett die Extraversion-Introversion-Pole herausgenommen und den introversen Pol mit ähnlichen, teilweise denselben Attributen besetzt, wie sie für Hochsensibilität kursieren. Der Grund ist das erfolgreiche Selbstfindungsbuch der einstigen Rechtsanwältin Susan Cain mit dem Titel „Still: Die Kraft der Introvertierten“. Sie baut dabei auf eher historische Überlegungen zu extravertierten und introvertierten Charaktermodellen auf. Ihr Fehler ist, Introversion als geschlossenes Charakterbild zu sehen und zu ignorieren, dass bestimmte Eigenschaften, die sie Introvertierten zuschreibt, auch für andere Profile des Big-Five-Modells gelten. Beispielweise kann der Drang Introvertierter, sich zurückzuziehen, auch zur Big-Five-Eigenschaft der emotionalen Ausgeglichenheit gehören, die dem Stabilitätsstrang zuzuordnen ist. Die Extraversion-Introversion-Schaukel gehört dagegen zum Plastizitätsstrang.

Jeder ist anders

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Die Entdeckung des Hochsensiblen und Introvertierten hat an sich wenig praktische Bedeutung. Es sind eben Persönlichkeitsausprägungen, wie andere auch, wie Langschläfer und Nachtarbeiter, extravertierte Macher, kauzige Nörgler, Rechts- und Linkshänder, Naturliebhaber und Technikfreaks.

Neu ist, dass die Ratgeberindustrie Hochsensible und Introvertierte als Kunden entdeckt hat, ihnen aber einzureden versucht, dass sie ein Problem haben. Das haben sie aber meist nicht, obwohl sich viele der so Einsortierten sicherlich öfter mal eine Anerkennung für ihr reflektiertes Engagement wünschen. Die meisten fühlen sich in ihrer selbst gewählten Zurückhaltung ganz wohl, auch wenn sie manchmal glauben, auf einem anderen Stern zu leben angesichts der Leichtfertigkeit, Kurzsichtigkeit und Hektik, mit denen viele wirtschaftliche und politische Entscheidungen getroffen werden.


Wieviel bist du von andern unterschieden?
Erkenne dich, leb mit der Welt in Frieden!

Aus dem Gedicht „Zueignung“ von Johann Wolfgang Goethe


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Bild: Ranveig/Commons.Wikimedia/CC BY-SA 3.0